Morphologische Betrachtungen zu
Henning Brandis Ausstellung "Kleine Proben in Euro"


von Prof. Dr. Elisabeth Lenk


Die Morphologie muß sich als eine besondere Wissenschaft erst legitimieren, indem sie das, was bei anderen gelegentlich und zufällig abgehandelt ist, zu ihrem Hauptgegenstande macht, indem sie das, was dort zerstreut ist, sammelt, und einen neuen Standort feststellt, woraus die Dinge sich mit Leichtigkeit und Bequemlichkeit betrachten lassen. (Goethe)


Henning Brandis hat mich gebeten, etwas über seine Kunst zu sagen. Das ist nicht so einfach, da das, was Henning macht, sich Diskursen entzieht. Aber auch Bilder malt Henning nicht im konventionellen Sinne des Wortes. Was mir schließlich in Bezug auf Hennings Arbeiten einfiel, war der Begriff der Sequenz, der auch im Mittelpunkt von Vladimir Propps Morphologie des Zaubermärchens steht. Wenn Henning alarmiert ist, oder sagen wir neutraler inspiriert, setzt er meist einen Anfangspunkt. Dieser Anfang könnte ein Ding sein, er ist oftmals ein Ding. Mit einem Fundstück, könnte man verallgemeinernd sagen, setzt bei Henning die inspirierte Reihe ein. Ich hatte Gelegenheit, ihn dabei zu beobachten. Den Anfang machte ein Rinderknochen. Henning legt seine Sequenzen oftmals wie eine Patience am Boden. Bald kam ein seltsamer Faden hinzu, den er auf Anhieb einen Rosenkranz nannte, der aber bei näherem Hinsehen auch die Zopffrisur eines Mädchens hätte sein können. Auffällig war nur, dass es jedes Mal aussah, als hätte Henning mit einem Tropfen Tinte gespielt bis der sich in lauter winzige Tropfen vervielfachte. All diese Gegenstände hatten die Tendenz sich zu verwandeln, vor allem das Ausgangsobjekt, von dem ich sprach. Kaum hatte es sich präsentiert, folgte eine ganze Reihe nach, die Henning bereits im Vorfeld als Sequenz kennzeichnete, indem er sie in griechische Buchstaben faßte. Eine Henningsche Reihe besteht demnach aus einem Ausgangspunkt, @, dem paarweise beta,/ gamma und dann delta / eta folgen. Das Dingalphabet kann nun, muß aber nicht, im Kopf des Betrachters ein Märchen auslösen oder besser den beschreibbar gewordenen Teil eines Märchens, dessen Rhythmus sich wiederholt wie ein Skatspiel oder eine Partie Schach.

Inspirierte Sequenzen sind nicht nur am Arbeitstisch, sondern auch auf der Straße möglich und ich dachte an einen Spaziergang mit Henning durch Hannover, bei dem er mir "seinen" Kunstverein zeigte, vor allem die Etage über dem Oberlichtsaal, auf der er als Siebzehnjähriger im Aktmalen debütierte. Unter dem renovierten Fußboden zeigte er mir den alten hannöverschen Steinfußboden, der aussieht, als wären in eine schwarze Masse lauter winzige helle Splitter gefallen. Wir nahmen dann Kurs auf die Kestnergesellschaft, die schon gar nicht mehr existiert, jedenfalls nicht mehr als öffentliches Gebäude und vor allem nicht in der Warmbüchenstraße, das sich aber magisch für Henning noch einmal öffnete. Die Legenden taufen die Bilder, schrieb Henning mir.



Eines Tages kam völlig überraschend ein "Bild" bei mir an, das mich begeisterte. Es trug schon eine "Legende": "warum ein Dzopön seinen Buttertee vergoß." Vielleicht war es auch wieder nur kollagiert aus Fundstücken wie die anderen, aber es war zugleich auch komponiert insofern Pinselstriche das Verschütten des Tees dramatisch inszenierten. Auffällig war ein schwarzer Stoffrand am unteren Ende des Bildes, sowie, zum Kontrast, helle Rechtecke, die auf den hellen Himmel aufgeklebt waren aber auch auf die dunkle Landschaft, die überdies durch Deckweiß am Horizont Schichten bildete. Diese Rechtecke wirkten so, als ob Wasser oder der Himmel selbst sich in ihnen spiegelte. Der Mönch lächelte auf eine Weise die schmerzlich wirkte. Wie heißt du hörte ich mich fragen und er antwortete Ich habe viele Namen Wo wohnst du Ich wohne an vielen Orten Seit wann gibt es dich Seit es Menschen gibt. Und er lächelte sein Lächeln, in dem Freude, Schmerz und Ekstase sich mischten. Der Dzopön saß wie ein Bootsfahrer in einer vertrockneten Landschaft, die nach der rechten Bildhälfte hin eingezäunt wirkte. Was er da mit der rechten Hand berührte könnte eine Gebetsrolle sein. Aber er betete nicht, dazu war er viel zu verzweifelt. Es wirkte so, als hätte die Katastrophe, seine Katastrophe, soeben stattgefunden, als habe er nicht nur sein Gefäß, sondern den Himmel zerbrochen und müsse nun die leuchtenden Scherben sammeln, ein Mönch, der aber nicht mit anderen Mönchen lebt, sondern allein, in einer leeren Landschaft unter einem zerbrochenen Himmel.